„Ein größer werdendes Störgefühl“ - Wolfgang Kubicki schreibt in "Die Welt" einen flammenden Appell für die Freiheit

[C. Hueck:] Endlich erhebt ein hochrangiger Politiker einer Regierungspartei seine Stimme gegen die Einschränkungen der Grundrechte, gegen die gesellschaftliche Diffamierung von Impfkritikern, gegen die Machtpolitik der Bundesregierung und selbst gegen die Rechtfertigung der "Bundesnotbremse" durch das Bundesverfassungsgericht. Wir bringen Auszüge aus einem Gastbeitrag in "Die Welt" vom 16.12.2021. Wolfgang Kubicki ist stellvertretender Bundesvorsitzender der FDP und Vizepräsident des Deutschen Bundestages.

 

„Da ich das große Glück hatte, fast sieben Jahrzehnte in diesem wunderbaren Land in Frieden und Freiheit leben zu dürfen, kann und will ich mich nicht an den Gedanken gewöhnen, dass in dieser Zeit des pandemischen Ausnahmezustandes Fakten geschaffen werden könnten, die uns dauerhaft eine „neue Normalität“ bescheren werden. Ich war mit der alten Normalität sehr zufrieden und ich werde weiter dafür streiten, dass wir diesen Zustand so schnell wie möglich wieder erreichen.“

 

„Jegliches Auflehnen gegen die staatlichen Maßgaben als rechtsradikal oder gemeingefährlich zu klassifizieren, würde der Komplexität des gesellschaftlichen Unmutes nicht gerecht. Es gibt ein immer größer werdendes Störgefühl, das sich auch in der Mitte der Gesellschaft breitmacht. Und das dürfen wir nicht ignorieren oder – schlimmer noch – denunzieren.“

 

„Die obersten Vertreter unseres Staates haben einiges dafür getan, dass ihnen im Verlaufe der zwei Jahre weniger Glauben geschenkt und weniger Vertrauen entgegengebracht wurde. Um bestimmte politische Maßnahmen zu flankieren, setzten Ministeriale in der Vergangenheit nicht nur auf die dosierte Verbreitung von Angst, sondern auch auf Unwahrheiten.“

 

„Viele Menschen in unserem Land – mich eingeschlossen – hätten sich nie vorstellen können, dass sich staatliche Repräsentanten an der offenen und vermeintlich legalen Ausgrenzung von einer relevanten Gruppe beteiligen. Mittlerweile scheinen sich viele daran gewöhnt zu haben, dass mit 2G eine bislang ausdrücklich freie Entscheidung gegen die Impfung mit einer gesellschaftlichen Stigmatisierung einhergeht. … Das Bundesverfassungsgericht selbst hat 2010 in einer Grundsatzentscheidung über die Hartz-IV-Regelsätze festgestellt, dass für die Wahrung des menschenwürdigen Existenzminimums 'ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich' ist.“

 

„Die Bund-Länder-Runde von Anfang Dezember – damals noch mit Kanzlerin Merkel – entschied mit den Stimmen von immerhin 17 obersten Repräsentanten von Verfassungsorganen, dass die gesellschaftliche und kulturelle Teilhabe von Ungeimpften auch bei einer Nullinzidenz (!) keine Rolle mehr spielen soll. … Der im Beschluss ausgerufene ‚Akt der nationalen Solidarität‘ war alles, nur nicht solidarisch. Er war darauf ausgelegt, Menschen für die Impfung zu belohnen, die anderen zu erziehen. Er war, nimmt man die Definition des Verfassungsgerichtes, unmenschlich, weil er Menschen eine grundlegende Teilhabe verwehrt.“

 

„Minderheitenschutz ist eine der großen Errungenschaften des Rechtsstaates. Dass die Mitgliedschaft in einer angeblich ‚falschen‘ Minderheit nun dieses Recht obsolet werden lassen soll, ist beängstigend.“

 

„Hinzu kommt, dass die Zweifel an der Wirksamkeit der politisch beschlossenen Maßnahmen wachsen. Die vielfach gelobte 'Bundesnotbremse' aus dem April und Mai dieses Jahres wirkte nicht nur in Deutschland, sondern sogar in der Schweiz oder Österreich. In Lettland und Estland konnten wir in den vergangenen Wochen sehen, dass völlig unterschiedliche Maßnahmenregime zum identischen Inzidenzverlauf führten.“

 

„Es entsprach dem politischen Narrativ der vorigen Bundesregierung und ihrer willigen Adlaten wie Markus Söder, dass das Prinzip 'Viel hilft viel' in der Corona-Bekämpfung unantastbar war. Grundrechtseinschränkungen waren demnach automatisch gut und richtig, sie dienten ja der Sache. Das war eine Erzählung, der sich auch viele Journalisten kritiklos anschlossen. Wer Zweifel an diesem ehernen Prinzip äußerte, war mit der Wucht der kollektivierten Empörung leicht ins Lager der rechtspopulistischen Schwurbler zu schieben.“

 

„Die aktuelle Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen müssen sich in diesem Zusammenhang selbstkritisch die Frage stellen: Wollen wir weiter Maßnahmen mit aller Macht verteidigen und gar ausbauen, bei denen oftmals einfach die Evidenz fehlt? … Wollen wir die gesellschaftliche Auseinandersetzung weiter auf die Spitze treiben, indem Vertreter der Exekutive erklären, sie verlören langsam die Geduld mit ihren angeblich unartigen Bürgern, dem Souverän?“

 

„Führende Vertreter des Staates haben es auf einen Konflikt mit dem Vernunftsgefühl vieler Menschen ankommen lassen. Die Spreizung zwischen dem Sinn vieler Corona-Maßnahmen und dem Empfinden der Menschen wird nach fast zwei Jahren zu einer veritablen Gefahr für unser Gemeinwesen. Beispiel Impfung: Wenn eine Impfung nachweislich nicht vor der Infektion anderer schützt, warum ist eine solche dann ein Ausweis der gesellschaftlichen Solidarität?“

 

„Für diese großen Argumentationslücken gibt es leider keine ausreichenden Antworten. Das ist fatal. Wir müssen leider konstatieren: Viele Menschen finden in den Repräsentanten und Institutionen unseres Staates keinen Ankerpunkt mehr für ihre Sichtweise, für ihre Sorgen oder für ihre Hilflosigkeit. … Selbst das Bundesverfassungsgericht hat nach Ansicht namhafter Rechtswissenschaftler seinen Nimbus als allerletzte Instanz der Freiheit eingebüßt. Die jüngste Entscheidung zur Bundesnotbremse, die bemerkenswerte inhaltliche und argumentative Schwächen sowie Widersprüche aufwies, hat leider keine Leitplanken für die künftige Corona-Politik aufgestellt. Insofern war die Einschätzung mancher Beobachter nachvollziehbar, Karlsruhe habe nach mehr als anderthalb Jahren Pandemie nicht zum Rechtsfrieden beigetragen.“

 

„Wir befinden uns in einer kritischen Phase unseres freiheitlichen Rechtsstaates. Ein nennenswerter Teil unserer Bevölkerung verzweifelt an der Haltlosigkeit, weil positive Anknüpfungspunkte, Identifikationsmöglichkeiten und -persönlichkeiten verloren gegangen sind.“

 

„Unsere Nationalhymne zelebriert ‚Einigkeit und Recht und Freiheit‘. Ich habe die große Befürchtung, dass viele Menschen in der Bundesrepublik nicht mehr glauben, dass dies für ihr Land noch gilt. Die besorgniserregende Frage bleibt also: Wer oder was hält dieses Land noch zusammen?“

 

„In den vergangenen zwei Jahren waren die Freiheitseingriffe stark, die Begründungen der Exekutive schwach. Hier muss es definitiv einen Paradigmenwechsel geben. Die Vorgehensweise der Regierung Merkel, Grundrechte einzuschränken, um Handlungsfähigkeit zu beweisen, darf nicht mehr Grundlage staatlichen Handelns sein.“

 

„Wer heute erklärt, die eigentliche Freiheit sei die Freiheit, sich kollektiv einem bestimmten Ziel zu unterwerfen, hat Freiheit nie verstanden. Freiheit ist kein kollektiver Wert, denn im Kollektiv ist die Selbstbestimmung eingegrenzt. Sie ist deshalb immer ein individueller Wert.“

Kommentare: 1
  • #1

    Thomas Mayer (Freitag, 17 Dezember 2021 13:05)

    Herr Kubicki hat schön geschrieben, aber dennoch der Impfpflicht für Plege und medizinische Berufe zugestimmt. Für die hundertausende Menschen, die das nun betrifft, gelten seine Argumente aber auch. Ich fühle mich deshalb von ihm getäuscht. Leider.