Genügt der Blick auf die Impfquote als Argument für eine allgemeine Impfpflicht?

 

Mit zu den größten Überraschungen der vergangenen Woche dürfte für alle, die von der Unvereinbarkeit einer Impfplicht mit dem Grundgesetz auch in der jetzigen Notlage überzeugt sind, der Haltungswechsel des FDP-Vorsitzenden Christian Lindner gehört haben, der am 24.11. für eine allgemeine Impfpflicht votiert hat mit der Begründung, er habe eine höhere Impfquote von 85% erwartet und sei enttäuscht über die viel zu niedrige Impfquote in Deutschland.[1]

 

Er betonte auf dem Parteitag der FDP am 4.12. nun zwar, dass eine allgemeine Impfplicht verfassungsrechtlich zu überprüfen sei und dass seine Partei sich nicht auf eine solche festlegen werde, denn das sei Sache des Gewissens jedes einzelnen Abgeordneten.[2] Dennoch muss man sich über die Begründung wundern, die Lindner und mit ihm auch andere Politiker, die sich mittlerweile für eine allgemeine Impflicht aussprechen, vorgebracht hat, nämlich die „zu niedrige Impfquote“.

 

Ist diese Begründung wissenschaftlich begründbar, oder dient sie lediglich als Vorwand, um das Grundgesetz beugen zu können? Lindner argumentierte zudem auch rechtlich: «Der Gesundheitsschutz ist ein hohes Gut, gleichwohl kann er nicht absolut gesetzt werden. Aber das Gleiche gilt für die Freiheit.» Freiheit sei kein Konzept der Grenzenlosigkeit, betonte Lindner. Wenn sie nicht gelebt werden könne, weil Leben und Gesundheit akut bedroht seien, verliere sie an Wert.[3] Auch diese Haltung gilt es zu hinterfragen.

 

Wir untersuchen hier nun die zur Begründung heran gezogene "zu niedrige Impfquote" in Deutschland und vergleichen sie mit den Impfquoten anderer Länder, um die Behauptung, die deutsche Impfquote sei „zu niedrig“, zu überprüfen. Wir vergleichen dazu die deutsche Impfquote mit vier anderen Ländern mit deutlich höherer Impfquote, gleich hoher Impfquote und deutlich niedrigerer Impfquote als Deutschland: Portugal, Großbritannien, Frankreich und Israel.

 

Schauen wir zunächst auf die Impfquoten der „vollständig Geimpften“, das heißt der doppelt Geimpften. Da sehen wir mit Stand vom 2.12. Portugal mit der höchsten Impfquote von 87%, dann folgt Frankreich mit 70%, Deutschland mit 68%, GB mit 68% und Israel mit 62%. Allein dieser Vergleich kann schon erstaunen, liegt Deutschland doch praktisch gleichauf mit Großbritannien, von dem man weiß, dass dort die Corona-Maßnahmen seit dem Sommer aufgehoben wurden. Und Israel, das in Deutschland immer als Musterland bzgl. der Impfquote genannt wird, liegt deutlich unter Deutschland.[4]

 

 

 

Schauen wir nun auf die aktuelle Lage auf den Intensivstationen, dann erstaunen wir noch mehr, denn diese steht nicht in Korrelation zu den Impfquoten:

In Deutschland liegen pro 1 Mill. Einwohner 52 auf einer ITS, in Frankreich sind es bei gleicher Impfquote dagegen nur 24, also weniger als die Hälfte, in GB sind es bei gleicher Impfquote nur 13, in Portugal bei höherer Impfquote nur noch 10, aber in Israel mit der niedrigsten Impfquote nur noch 9. Wie kann das sein?

 

Wir sehen hier, dass die Impfquote nicht der allein maßgebliche Faktor ist. Vielmehr müssen wir auf einen anderen entscheidenden Faktor hinsehen, nämlich die Booster-Impfungen. Denn aufgrund der stark nachlassenden Impfwirkung sind von einem Aufenthalt in einer ITS vor allem die Gefährdeten betroffen, bei denen die Impfwirkung überdies noch schneller nachgelassen hat. Einige Länder wie Israel und Großbritannien haben das bereits früh erkannt und umfangreich geboostert:

 

 

In Israel waren am 1.12. 44% geboostert, in GB 28%, in Deutschland dagegen nur14%, in Frankreich aber bei gleicher Impfquote noch weniger, nämlich 13%, in Portugal bei deutlich höherer Impfquote ebenfalls nur 13%.

 

Wir sehen hier also einen sehr wesentlichen Faktor im Hinblick auf die Notlage in den Kliniken, nämlich dass in Israel und GB bei niedrigerer bzw. gleicher Impfquote eine deutlich höhere Zahl von vollständig Geimpften geboostert wurde. Womit sich erneut das Konzept einer risikostratifizierten Schutzstrategie, das heißt einer Konzentration der Schutzmaßnahmen auf die Gefährdeten als stimmig erweist.[5] Denn in Israel und GB liegen die ITS Zahlen deutlich unter denen von Deutschland.

 

 

Aber was ist mit Frankreich und Portugal? Schauen wir dazu im Vergleich noch auf die aktuellen Fallzahlen im Durchschnitt der letzten 7 Tage. Sie lagen am 4.12. in Deutschland bei 678 bezogen auf 1 Mill. Einwohner, in GB bei 658, in Frankreich bei 608, in Portugal nur bei 326 in Israel dagegen nur bei 58! Deutschland hat ähnlich hohe Fallzahlen wie GB und mittlerweile auch Frankreich, jedoch deutlich mehr Belegungen auf den ITS. Und in Frankreich hat man ebenso wenig geboostert wie in Deutschland! Und in Portugal? Ist dort nicht doch die hohe Impfquote der Erfolgsfaktor?

 

 

Schauen wir zur Beantwortung der obigen Fragen abschließend noch auf die Zahl der insgesamt Infizierten hin. Da sehen wir nämlich, dass sich bezogen auf 1 Mill. Einwohner in GB 158 Tsd. Menschen infiziert haben, in Israel 145 Tsd., in Portugal 118 Tsd., in Frankreich 114 Tsd. und in Deutschland dagegen nur 74 Tsd. In Deutschland haben sich also sehr viel weniger Menschen in der gesamten Bevölkerung, also auch unter den Jüngeren infiziert als in allen anderen Ländern. Das Virus ist hier also deutlich weniger endemisch als in GB, Israel, Frankreich und Portugal. Darauf hat auch der umstrittene englische Chef-Epidemiologe Neil Ferguson in einem Interview hingewiesen.[6]

 

Damit bestätigt sich erneut das, was viele Epidemiologen wie Hendrik Streeck schon seit langen gesagt haben. Wir müssen mit dem Virus leben lernen, denn diejenigen, die es nicht gefährdet, können durch eine Infektion eine stabile Immunität herstellen, diejenigen aber, die gefährdet sind, können sich durch eine Impfung schützen. Der alleinige Blick auf eine vermeintliche Impfquote verengt den Blick, erzeugt ein falsches Bild der Gesamtlage und spaltet zudem die Gesellschaft noch weiter.

 

Vor allem aber muss man mit Blick auf Portugal auch betonen, dass die dortige hohe Impfquote ohne eine allgemeine Impfpflicht erreicht worden ist! Aus einem gewissen Volksgeist heraus haben sich viele Einwohner aus sich heraus dazu entschieden! Und das ist ein entscheidender Faktor für die Volksgesundheit. Wie sagte doch der Theologe und Philosoph jüdischer Herkunft Ivan Illich: „Das gesundheitliche Niveau wird (...) dort am höchsten sein, wo die Umwelt die Menschen zu persönlicher, autonomer, verantwortlicher Lebensbewältigung befähigt.“[7]

 

Abschließend noch ein Hinweis auf die Kölner Juraprofessorin Frauke Rostalski, Mitglied im Deutschen Ethikrat, die sich am vergangenen Wochenende aus verfassungsrechtlichen Gründen gegen eine allgemeine Impfplicht ausgesprochen hat: „Wenn andere Länder ohne Impfpflicht in der Coronakrise besser führen als Deutschland, stelle sich automatisch die Frage: Hat der deutsche Staat wirklich schon alle Instrumente in die Hand genommen, bevor er zur Keule einer Impfpflicht greift? Und da würde ich sagen: Nein. Aber auch unabhängig davon: Eine Impfpflicht für diejenigen, die kein erhöhtes Risiko aufweisen, mit Covid-19 auf der Intensivstation zu landen, lässt sich aus meiner Sicht generell nicht rechtfertigen. Bedenken gegen eine allgemeine Impfpflicht sind Ausdruck eines Gespürs, dass der Staat zu weit geht“, so Rostalski weiter. Er lege den Bürgern „eine Pflicht auf, die – vorsichtig gesagt – fragwürdig ist“. Sich dagegen zu verwahren, entspreche einer tiefen Überzeugung vom Recht und seiner Geltung.

 

„Eine allgemeine Impfpflicht gibt es derzeit in Tadschikistan, Turkmenistan und neuerdings auch im Vatikanstaat. Ich weiß nicht, ob das für uns die Vorbilder sein sollten. Die Euphorie, mit der eine derart brachiale Maßnahme nun teilweise in der deutschen Diskussion aufgenommen wurde, ist nur schwer nachvollziehbar“, sagte sie mit Blick auf die Pläne Österreichs für eine allgemeine Impfpflicht.[8]

 

Und man muss sich wohl auch fragen: Wie würde Deutschland am Ende der Pandemie dastehen, wenn es dann kein andreres europäisches Land gäbe, das eine allgemeine Impfpflicht benötigt hätte, um die Pandemie zu beenden, außer eben Deutschland, das gerade aufgrund seiner Geschichte mit Eingriffen in die körperliche Unversehrtheit die aller bittersten Erfahrungen gerade auf dem Gebiet der Medizin gemacht und eben deshalb sich eine entsprechende Verfassung gegeben hat?

 

Dieser Verfassung würde eine allgemeine Impfpflicht ins Gesicht schlagen. Frauke Rostalski sagt deshalb mit Blick auf unsere Verfassung und das antwortet nun auch auf die rechtliche Argumentation Lindners: „Eingriffe in die Körperintegrität weisen ein besonders hohes Gewicht auf, weil sie den Menschen in seiner intimen Leiblichkeit betreffen, die Grundvoraussetzung – „natürliche Basis“ – für die Ausübung anderer Freiheitsrechte ist. Nach einer im Verfassungsrecht vertretenen Position weist der Eingriff in die Körperintegrität durch eine Impfpflicht zudem eine Würdedimension auf. In unserer Rechtsordnung kommt jedem Menschen ein Wert an sich zu – jeder besitzt eine Würde, die nach unserer Verfassung „unantastbar“ ist.“[9]

 

Das sollte auf dem Hintergrund unserer Geschichte und der aus ihr entstandenen Verfassung oberstes Gebot bleiben.

 

Andreas Neider

 


[5] Auf diese Strategie hatte bereits vor einem Jahr die in Deutschland jedoch scharf kritisierte „Great Barrington Declaration“ hingewiesen: https://gbdeclaration.org/die-great-barrington-declaration/

[7] Ivan Illich, Die Nemesis der Medizin, S. 13

[9]https://www.welt.de/kultur/plus235418140/Corona-Politik-Warum-eine-Impfpflicht-gegen-die-Verfassung-verstoesst.html?icid=search.product.onsitesearch

 

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