Zurück zu welcher „Normalität“?

[Andreas Neider:]  In der zweiten Phase der Corona-Krise hört man mehr und mehr den Ruf nach einem „zurück zur Normalität“. Wohin aber soll dieses „Zurück“ denn führen? Was war denn „die Normalität“ vor der Corona-Krise? Wir können uns doch angesichts dieser Krise mit ihren globalen Ausmaßen ganz klar sagen: Es herrschte zuvor keineswegs eine „Normalität“, denn sonst wäre diese Krise ja wohl kaum ausgebrochen.

Denn eines ist sicher, diese Pandemie ist keine Naturkatastrophe, kein Erdbeben, kein Tsunami, kein Reaktorunfall. Es sind auch nicht die „bösen Chinesen“ oder die 5G-Technologie dafür verantwortlich, sondern einzig und allein wir Menschen, zu mindestens die, die in irgendeiner Weise gesellschaftliche Verantwortung tragen, aber in gewisser Hinsicht auch jeder einzelne Mensch.

Natürlich will ich, wenn ich als Angestellter meine Arbeit verloren habe oder als freier Kunstschaffender keine Aufträge mehr habe, um meinen Unterhalt bestreiten zu können, so schnell wie möglich wieder Arbeit und Aufträge haben. Und natürlich wollen alle Menschen auch so schnell wie möglich ihre Grundrechte wieder hergestellt sehen. Dennoch kann man sich von einem gewissen Gesichtspunkt aus sagen: Vielleicht kann ich diese Pause, solange sie auch dauern mag, noch besser nutzen und mich fragen: „Zu welcher Normalität möchte ich denn eigentlich zurück“? War das, was ich vor der Krise getan habe, denn gut und richtig? Kann ich diese Pause nicht auch dazu nutzen, diese „Normalität“ in Frage zu stellen?

Denn eines zeigt uns diese Krise ja sehr deutlich: Die Getrenntheit, in der wir durch das „social distancing“ jetzt leben müssen, macht uns einen Zustand bewusst, in dem die meisten Menschen in ihrer „Normalität“ unbewusst immer gelebt haben und weiterhin leben: Denn in unserem Normalbewusstsein sind wir immer getrennt von den Dingen, die wir um uns herum wahrnehmen. In unserem materiellen Bewusstsein erleben wir uns immer getrennt von der Natur, sonst würden wir sie nicht in der Weise ausbeuterisch benützen, wie wir es die letzten Jahrhunderte über immer getan haben. Und viele Menschen fühlen daher auch zumeist nur sich selbst, nicht aber das, was real um sie herum vorgeht.

Das „social distancing“ ist schmerzhaft, es nimmt uns unsere wirtschaftlichen Grundlagen, es nimmt uns unsere Grundrechte – aber wofür mag das wohl möglich denn gut sein? Solange wir noch in diesem Ausnahmezustand leben, könnten wir uns um ein Bewusstsein bemühen, dass wir in Wirklichkeit gar nicht getrennt sind von den Dingen und Menschen, die uns umgeben, indem wir uns klar machen, dass wir in Wirklichkeit, aber eben unbewusst, immer mit allem, was uns umgibt, in Verbindung stehen und dass es Möglichkeiten gibt, diese Unbewusstheit nach und nach aufzulösen.

Die anthroposophische Meditation schafft diese Möglichkeit, einen der „Normalität“ entgegengesetzten „Ausnahmezustand“ herzustellen, indem sie uns mit der geistigen Realität, die allen Dingen zugrunde liegt, verbindet. Durch eine solche Meditation verbinden wir uns in höherer Art mit den Dingen und können bemerken, dass wir alle in ein und derselben geistigen Wirklichkeit leben, wir müssen uns dieser Wirklichkeit nur bewusst werden.

So verständlich der Ruf nach einer Rückkehr zur Normalität natürlich ist, so kann die momentane Situation auch als eine vom Schicksal gegebene Möglichkeit angesehen werden, die Voraussetzungen für eine „neue Normalität“ in diesem hier angedeuteten Sinne überhaupt erst herzustellen. Und das gilt dann nicht nur für unser normales Bewusstsein und unser geistiges Streben, es gilt natürlich auch für das wirtschaftliche Handeln.

Wenn beispielsweise der Chef von Daimler-Benz bei der Wideraufnahme der Produktion auf die „E- und S-Klasse“ setzt, weil das die Umsatzbringer sind, dann muss man sich fragen: Sind das nicht gerade die Fahrzeuge, die viel zu viel CO2 produzieren? Wäre die jetzige Produktionspause nicht eher der Anlass, jetzt endlich neue Wege in der Fahrzeugproduktion mehr denn je zuvor voran zu treiben? Wäre das nicht der Zeitpunkt, auch den Anteilseignern klar zu machen, dass es so wie zuvor eben nicht mehr weiter gehen kann? Wann, wenn nicht jetzt, soll den der notwendige Wandel in unserem Konsumverhalten, den wir der Erde und unserem Klima schuldig sind, eintreten?

Und auch unsere Freiheit, unsere Grundrechte, wenn wir sie mit gutem Recht einfordern, wozu wollen wir sie denn aber danach nutzen? Ist nicht gerade in der jetzigen Situation ein gesellschaftlicher Wandel auch hier erforderlich? Versammlungen, ja natürlich – aber  eben dazu, um einen Gesinnungswandel mit zu gestalten und den bislang immer noch nicht gehörten Forderungen nach anderen, das Klima und unsere Erde berücksichtigenden Formen des Wirtschaftens endlich so viel Gehör zu verschaffen, dass es eben nicht weiter geht, wie zuvor. Die „neue Normalität“ darf eben nicht die alte sein, sondern sie sollte vor allem ein Bewusstsein unserer Verbundenheit mit der Welt, die uns als eine beständige Grundlage unseres Handelns umgibt, ermöglichen.

Andreas Neider

 

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Kommentare: 3
  • #1

    Susana Ulrich-Alvarez Ulloa (Donnerstag, 07 Mai 2020 10:30)

    Lieber Herr Neider, es tut gut Ihre aufweckenden Gedanken zu lesen, denn genau so klar und eklatant, wie Sie die jetzige Lage formuliert haben, birgt jede Krise eine große Chance in sich. Und diese Chance sollten wir nicht verschlafen, sondern neuen Mutes bewusst ergreifen.
    Vielen herzlichen Dank für die wertvollen, weiterführenden Betrachtungen, die uns durch diesen Blog ermöglichen.

  • #2

    Istvan Stephan Hunter (Donnerstag, 07 Mai 2020 11:25)

    Lieber Herr Neider, ich bin ebenfalls Ihrer Meinung, dass die von vielen gewählte oder aufgezwungene "Auszeit" zu einem heilsamen Umdenken genutzt werden könnte. In diesem Zusammenhang ist meines Wissens eine neue Partei in Deutschland gegründet worden deren Ansätze und Begründer hoffnungsvoll stimmen. Ich spreche von widerstand2020. Sie hat in wenigen Wochen mehr Mitglieder erhalten als AFD oder FDP.

  • #3

    B (Donnerstag, 07 Mai 2020 17:02)

    Die Krise ist aber nicht die private Angelegenheit des Arbeitnehmers, sondern auch der Wirtschaft: Sozialeinrichtungen für Kinder wie Initiativen gehen vor die Hunde, während die Wirtschaft Milliarden erhält...